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Literatur am Ende – Putting *Schöpfung* in *Erschöpfung*

17. November 2022, 9:00 - 22:00

Die Tagung wird über Zoom unter folgendem Link gestreamt: https://uni-bamberg.zoom.us/j/68739076906

Überall zeigen sich Erschöpfungserscheinungen: In weniger lebenswichtigen Bereichen wie dem Literaturbetrieb wird das Papier knapp, in lebensnotwendigen Bereichen wie dem Gesundheitssystem verzehrt die Pandemie das Pflegepersonal. Es mag an dem Blick der erschöpften Individuen zu pandemischen Zeiten liegen, dass sich überall das Ende anzukündigen scheint. Viele fühlen sich erinnert an décadence und ennui der vorletzten Jahrhundertwende, andere an mementomori und vanitas im Barock. Literaturwissenschaftler*innen, die sich sowieso leidenschaftlich in endlosen Referenzsystemen verlieren können, werden immerhin nicht müde Parallelen zu finden in den Erschöpfungszuständen unterschiedlicher Epochen. Wir sind nicht erschöpft genug, um nicht über Erschöpfung zu reden. Deshalb laden wir zu einer Tagung, in der wir die Schöpfung in der Erschöpfung suchen wollen. Es ist uns um sehr viel zu tun:

Die Literaturwissenschaft zeigt Erschöpfungserscheinungen. Die kanonischen Autoren [sic!] gelten als überforscht und so verlieren sich Forscher*innen in Details wie Goethes Wäschelisten. Das liegt nicht zuletzt an den zu enggefassten akademischen Kriterien für Literatur, die es wert ist, erforscht zu werden. Einer von drei Faktoren muss den Gegenstand legitimieren: 1. kommerzieller Erfolg – ‚da kommt man nicht drum rum‘; 2. ästhetische Qualität, gemäß von der Literaturwissenschaft selbst gesetzten Kriterien; 3. soziologisches Interesse, meist verbunden mit einem abschätzigen Blick auf ‚bildungsferne Milieus‘. Das macht es schwer, aus dem erschöpften Kanon auszubrechen. Dabei ist bereits die Literatur selbst, die sich diesen Kriterien beugt, erschöpft. Nicht nur im Sinne einer Überforschung, sondern auch im Sinne eines repetitiven Selbstbezugs, der sich im Zitat verliert. Literatur, die ästhetisch legitimiert sein will, scheint sich durch ihre immer koketter werdenden selbstreflexiven Volten nur noch der Literaturwissenschaft anzubiedern.

Hier könnte ein schöpferisches Moment in der Erschöpfung ansetzen: neue ästhetische Qualitäten entdecken in (noch) nicht kanonisierten Texten, soziologisch oder kommerziell legitimierte Gegenstände ästhetisch erkunden. Das geschieht teilweise bereits, wenn zum Beispiel endlich Dramatikerinnen des 18. oder Rapper des 21. Jahrhunderts in den Fokus rücken. Spätestens in der pandemischen Zeit mit der Wanderung des Soziallebens ins Virtuelle tut sich außerdem die Frage auf, ob gedruckte Texte überhaupt noch die Aufmerksamkeit verdienen, die sie (noch) in der Forschung bekommen. Ist nicht das Papier nicht nur im materiellen, sondern auch im idealen Sinne längst erschöpft, weil die Musik der Gegenwartsliteratur längst auf Twitter, Wattpad und Co. spielt? Und was ist damit, dass plötzlich durch Digitalisierung alter Bestände sehr viele physisch angegriffene Texte mit einem Klick einem Massenpublikum, so es sich dafür nur begeisterte, zugänglich wären?

Wir wollen über alles hören und über alles reden: Theoretisches zu Kanonbildung und literaturwissenschaftlichen Methoden, Historisches zum Motiv und der Tradition der Erschöpfung, Analytisches zu erschöpften Formen und Gattungen, Materialistisches zu Bildschirmen und Papier. Als Anregung zu literaturhistorischen, literaturphilosophischen bis hin zu poetologischen und literarischen Beiträgen mögen folgende Schlagwörter dienen:

  • Ecocriticism: Land unter in der Literatur/wissenschaft
  • Im Spiegel ist Welterschöpfungstag, im Traum wird geschlafen.
  • Aufschub: Warten als utopischer Zustand
  • Boreout: Überforderung durch Langeweile
  • Hedonismus und Euphorie haben als Allheilmittel versagt.
  • „Kapitulation ist das schönste Wort in deutscher Sprache.“ (Tocotronic)
  • Rache
  • Putting *Nation* in *Resignation*
  • Überforschung: Das Fach hat sich überlebt.
  • Bedeutungsüberfrachtung führt in die Bedeutungslosigkeit.
  • Zitieren und Kommentieren in Endlosschleife: von Jüdischen Texttraditionen lernen
  • Melancholie
  • Mythen der Er/schöpfung
  • Retina ist das neue Büttenpapier.
  • fehlgeschlagene Versuche, ästhetisch anspruchsvoll zu sein
  • Burnout, Depression, Fatigue – Zeitdiagnostik am Limit
  • Untergang und Neubeginn? Zyklische (Kultur-)Modelle

Donnerstag 17. November 2022

Panel 2: Nichtstun

9.00 Uhr: Bernd Auerochs (Kiel): Aufschub und Warten. Mit der Hilfe Kafkas

9:45 Uhr: Florenz Gilly (Wien): Tribute des intensiven Lebens. Ätiologie der Erschöpfung in Ottessa Moshfeghs My Year of Rest and Relaxation

10:30 Uhr: Kaffeepause

11.00 Uhr: Anna Seidel (Innsbruck): Sag alles ab! Oder: Was Diskurspop mit Bartleby zu tun hat

11:45 Uhr: Künstlerischer Beitrag Zara Zerbe (Kiel): Poetik der Tagediebin. Von der literarischen Arbeit am Nichtstun

12:30 Uhr: Mittagspause

Panel 3: Ästhetik

14.00 Uhr Yuuki Kazaoka (Sagamihara): Die Rache in Ingeborg Bachmanns literarischem Schreiben. Am Beispiel des Gedichtsfragments Eine andere Rache und dem Roman Das Buch Franza

14:45 Uhr: Kai Nonnenmacher (Bamberg): ›Comme si écrire c’était ne pas dormir‹: zur Poetik der Schlaflosigkeit bei Marie Darrieussecq

15:30 Uhr: Kaffeepause

16:00 Uhr: Sonka Hinders (Oldenburg): Oh, the boy’s a Slack: Erschöpfte Materialität und (post-)digitales Lesen in Calvin Kasulkes Several People Are Typing

16:45 Uhr: Edgar Hirschmann (Aachen/Bamberg): Minima Pluralia: Literarische Imagination gegen den Verlust an Vieldeutigkeit

17:30 Uhr: Künstlerischer Beitrag Siggiko (Cottbus): Poetik der Pśezpołdnica (Mittagsfrau): Niedersorbische Stimmen an der Schwelle der (Er)Schöpfung

18:15 Uhr: Abendessen

20:00 Uhr Max Czollek: Dunkle Materie. Von Wut, Trauer und Erschöpfung als Treibstoff kreativer Prozesse. Lesung und Gespräch