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Miriam Wray: Mode und textile Ornamentik in der deutsch-jüdischen Literature seit dem 20. Jahrhundert

„Überall wurde gewebt und genäht, die Stadt war voll mit kleinen und größeren Fabriken, denn Kalisz versorgte ganz Russland mit Spitzen, überall webten Frauen Spitzen, koronka auf Polnisch, krushewo auf Russisch, ich suchte nach meinen Krzewins, und auch sie waren aus einem Gewebe entstanden, aus diesem sprachlichen Ornament. Warum hat mein Urgroßvater Ozjel seinen Sohn Zygmunt in Polen gelassen, als er mit seiner Familie nach Kiew umsiedelte? Ich ging durch Sumpf und Spitzenschleier.“ (Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther 129)
Dieses Seminar der Ringvorlesung präsentiert eine literatur-historische und kultur-historische Studie zu Ornament und Mode in der Literatur des fin de siècle Wien und Prag, und konzentriert sich dabei auf den jüdisch dominierten Shmaté Handel in Kafkas, Musils und Brochs Texten. Unter Shmatè-Handel versteht man somit den jüdischen Textilhandel, der im Handel von Textilresten seinen Ursprung hat.
Wir werden uns insbesondere auf kurze Auszüge von Kafkas Der Verschollene, Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften konzentrieren. Diese behandeln Ornamentik nicht in Bezug auf Architektur, sondern in Bezug auf Kleidung.
Die Verbindung von Ornamentik und Mode geht auf die klassische Antike zurück und lebt in der Ornamentaskese des 20. Jahrhunderts auf. Vor dem Hintergrund kritischer Theorie von Vitruvius bis Semper, Riegl, Wörringer, Loos und Kracauer werden Verbindungen zwischen Ornament und Mode aufgeworfen. Dabei ist auch die biographische Relevanz in der deutsch-jüdische Literatur von Belang, denn Kafka, Musil und Broch hatten alle einen biographischen Bezug zum Textilhandel.
Eine Rückschau auf die textile Wirtschaftsgeschichte, insbesondere den jüdischen Shmaté Handel, kann die Literatur zu Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend beleuchten und den Bezug zwischen Textilie und Ornamentik neu herausarbeiten.
Dabei soll nicht nur auf eine Verbindung zu ornamentbehafteten „synagogalen Textilien“ (Hoffmann 2001), sondern auch zum textilen Medium als stummes Zeugnis einer verlorenen Kultur aufgeschlagen werden, welche jedoch in der Literatur, und somit auch in der jüdischen Gegenwartsliteratur, wie in den Werken von Katja Petrowskaja, Olga Grjasnowa und Sasha Marianna Salzmann, neuen Raum erlangen und an den Akt des Schreibens gekoppelt bleiben.
Die Symbole und Symbolik der Textilien, die auch auf den Tempelkult und Synagogenkult bis ins alte Israel zurückverweisen, aber gleichfalls Einflüsse vom Christentum und Islam aufnahmen, sind besonders aufschlußreich zur bewegten Geschichte des Judentums und seiner damaligen und gegenwärtigen Literatur.
Das lateinische Wort texere zeigt wie der Bezug zwischen Text und Textilie nicht nur die narrativen Konzeptionen in Auszügen von Kafka, Musil und Broch bestimmt, sondern die Verbindung zwischen Text und Textilie bis auf die gegenwärtige jüdische Literatur, insbesondere der post-Sovjet jüdischen Literatur in Deutschland, in den U.S.A und Israel erstreckt und Themen wie Migration, Identität, Transgender, Kosmopolitanismus und Solidarität neu beleuchtet.