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Nützt es dem Volk, betrogen zu werden? Eine Debatte zur Politik der Aufklärung

Kontakt und Anmeldung zur Teilnahme in Präsenz und Online bis 20. März 2023: Dr. Jana Kittelmann, IZEA, jana.kittelmann@izea.uni-halle.de
1780 veröffentlicht die Klasse der belles lettres der Königlich Preußischen Akademie für Wissenschaften ihre Preisfrage Est-il utile au Peuple d’être trompé? Ob es nützlich für das Volk sei, betrogen zu werden — diese Frage löste eine lebhafte Diskussion aus, in der die politischen Implikationen der Aufklärung verhandelt wurden: ob Aufklärung und Regierung wirklich gemeinsame Interessen verfolgten, ob erstere letztlich durch Täuschung geschützt werden müsse oder umgekehrt letztere durch Täuschung kompromittiert werde etc. In diesen Debatten zeigt sich die zunehmende Skepsis gegenüber der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts, und an ihnen lassen sich deren Ambivalenzen und Spannungen erkennen: die prekäre Position der deutschen Aufklärung, die den Kampf gegen Vorurteile mit der Unterordnung unter die staatliche Obrigkeit verband, das zweideutige Verhältnis der Aufklärung überhaupt zum „Volk“, deren Glaube und Zweifel an der Macht der Wahrheit. Die Debatte ist aber auch heute aktuell angesichts einer sich zuspitzenden Krise der Öffentlichkeit und eines sich verschärfenden Streites um den politischen Wert der Wissenschaft, in dem oft explizit Bezug auf die Aufklärung genommen wird. Die Tagung will daher im Ausgang von der Debatte über die Preisfrage allgemein nach der Politik der Aufklärung und ihrer Relevanz für unsere Gegenwart fragen.
Schon von den Zeitgenossen ist die Preisaufgabe und die anschließende Diskussion als epochemachend und auch als schockierend betrachtet worden. Nach dem Nutzen der Täuschung zu fragen war nicht die erste Wahl gewesen: Die Akademie hatte sich eigentlich bereits auf eine andere Frage geeinigt, sich dann aber dem Druck des preußischen Königs gebeugt, gerade diese, hochpolitische Frage zu stellen. Dass ausgerechnet der preußische König, der selbst in seiner Jugend im Anti-Machiavel die Täuschung in der Politik verworfen hatte und nach dem Kant wenig später das Jahrhundert der Aufklärung benennen sollte, der Wissenschaft eine Aufgabe und das Thema Täuschung aufzwang, illustriert die prekäre Natur der Aufklärung.
Die über vierzig Einsendungen diskutierten alle zentralen Begriffe der Frage – „tromper“, „utile“, und „Peuple“ –: Ist eine Täuschung dasselbe wie eine Lüge, gibt es notwendige, legitime oder unvermeidliche Täuschungen, oder taktische und strategische Irreführungen? Deckt sich der Nutzen des Volkes mit dem allgemeinen Nutzen, besteht dieser Nutzen einfach nur im Glück von allen oder impliziert er mehr? Und wer ist überhaupt dieses Volk, wie verhält sich die „multitude“ der Ungelehrten zur Gesamtheit der Untertanen? In diesen Debatten werden alte Wissensbestände ebenso verwendet wie neue Ideen: die platonische Vorstellung eines Idealstaats, die Erinnerung an den Prozess des Sokrates und die daraus abgeleitete Vorsicht des Philosophen, die verschiedenen Figuren des weisen Gesetzgebers, die Vorstellung einer religio duplex, einer doppelten Religion für die Menge und die Eingeweihten, das Wissen über die Regierungsformen, aber auch die Semiotik, popularphilosophische Ideen der Öffentlichkeit oder des Fortschritts der Bildung. Die Frage der Täuschung erweist sich dabei als verwandt mit vielen anderen zentralen Diskussionen der Aufklärung: über Vorurteile, über den Kampf gegen den Aberglauben, über die Grenzen des Wissens, über die Irrtümer, die sich mit dem Gebrauch der Sprache verbinden, über die Glückseligkeit des Menschen und ihr Verhältnis zur Religion, über die Erziehung und deren Grenzen etc. Auch formal variieren die Beiträge: Vom katechetischen Lehrgespräch über die lehrmäßige philosophische Darstellung bis zum Essay im expressiven Stil der Empfindsamkeit demonstrieren sie auch in dieser Hinsicht die Vielfalt der Aufklärung.
Mehr oder weniger explizit werden dabei auch die radikalen Fragen an die Politik der Aufklärung aufgeworfen: Kann sich das Gemeinwesen selbst entwickeln oder braucht es eine Leitung? Geht Aufklärung mit dieser Leitung einher, soll sie diese beraten, oder vollzieht sie sich in deren Schutz? Und wie wird sich das entwickeln: Wird Aufklärung Herrschaft überflüssig machen, braucht Herrschaft immer (mehr) Aufklärung oder entwickeln sich beide unabhängig voneinander? Wenn Wissen und Macht sich gegenseitig beeinflussen, soll dann Wissen die Macht heben oder wird Wissen durch Macht hinabgezogen? Wie brennend und kontrovers die Fragen sind, zeigt auch die Entscheidung der Akademie, die den Preis zur Hälfte an Rudolf Zacharias Becker, der den Nutzen des Betrugs kategorisch verneint und Frédéric de Castillon, der ihn in bestimmten Situationen für unvermeidbar hält.
Nicht diese Antworten, aber diese Debatte selber haben noch eine lange Geschichte gehabt. Wo der Nutzen für das Volk vom Nutzen für die herrschenden Klassen unterschieden wird, zeichnen sich bereits Grundlinien einer Theorie der Ideologie ab. Die Notwendigkeit der Täuschung spielt bei der Konstruktion einer radikalen Aufklärung eine ebenso wichtige Rolle wie bei der Diskussion über deren angemessene Form der Öffentlichkeit. So wird etwa David Friedrich Strauss nicht nur Hermann Samuel Reimarus‘ Entschluss verteidigen, seine Schutzschrift nicht zu veröffentlichen; er schließt auch sein Leben Jesu, kritisch betrachtet mit dem Rat an den modernen Theologen, seine Einsichten nicht gerade in die Predigt einfließen zu lassen.
Schließlich wird auch die Figur des „Intellektuellen“ zwischen Wahrheit und Macht situiert. Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Macht und Wahrheit schließlich steht gerade heute wieder im Zentrum der Diskussion. Wie kann in „postdemokratischen“ Gesellschaften, angesichts der Erosion des vermeintlich selbstverständlichen Zusammenspiels von gesellschaftlichem Diskurs, politischen Institutionen und medial vermittelter Öffentlichkeit, angesichts der Krise politischer Partizipation und des gesellschaftlichen Konsenses mit dem Verhältnis von Wissen und Wahrheit umgegangen werden? Welche Rolle sollen Experten, welche Rolle die Medien spielen? Ist Wahrhaftigkeit ein unhintergehbarer Wert oder dient sie ohnehin besonderen Interessen? Wenn gegenwärtig auch die disziplinären Zuständigkeiten fragwürdig werden, weil die lange kurrenten Paradigmen der Politik- oder Sozialwissenschaft nicht mehr überzeugen und nach einem anderen, radikaleren und offeneren Denken des Politischen gefragt wird, dann werden die in vieler Hinsicht undisziplinierten Diskussionen der Aufklärung wieder aktuell.
Die Tagung soll von der Debatte über die Preisfrage ausgehen und deren weitere Implikationen – auch über das 18. Jahrhundert hinaus – entfalten. Im Zentrum soll die Vielfalt, Ambivalenz und Komplexität der Diskussion stehen. Beiträge können sich auf einzelne Einsendungen, bestimmte Fragen, Konzepte oder Argumentationsfiguren der Diskussion konzentrieren. Einige dieser Aspekte seien im Folgenden erwähnt.
Öffentlichkeit und Geheimnis
Öffentlichkeit ist und bleibt ein wichtiges Grundprinzip der Aufklärung und manifestiert sich nicht zuletzt in der hier geführten Debatte selbst, in der auch besonders deutlich wird, wie sich in der Diskussion die funktionale Frage der Nützlichkeit der Öffentlichkeit mit ihrer legitimierenden Kraft vermischt. Aber sie wird doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits kritisch betrachtet, etwa in den Satiren über das Verlagswesen, in der Aufwertung des Geheimnisses, in der Kritik an der Popularphilosophie oder in der Unterscheidung von gelehrter und privater oder mündlicher und schriftlicher Öffentlichkeit. Das Herausarbeiten dieser Spannungen kann helfen, die Ambivalenzen der gegenwärtigen Diskussionen über Öffentlichkeit und ihre Medien besser zu verstehen.
Politische Theologie
Fast alle Beiträge fassen die Frage als eine doppelte auf: Sie diskutieren die Notwendigkeit von Täuschung in der Politik und in der Religion. Wie die meisten Aufklärer betrachten sie Religion als eine zentrale Quelle der öffentlichen Moral, wie jene polemisieren sie aber auch gegen Aberglauben und Enthusiasmus als fehlgeleitete Formen der Religion, häufig wird dabei explizit auf die Reformation als Vorgänger der Aufklärung verwiesen. Umstritten ist dabei, ob gerade das Gebiet der Religion nach Täuschung des allzu schwachen menschlichen Intellekts verlangt oder ob Täuschung hier ganz anders als besonders gefährlich betrachtet wird. Gerade aus einer postsäkularen Perspektive können diese Diskussionen zum Anlass genommen werden, das Verhältnis von privatisierter Religion und öffentlicher Meinung neu zu diskutieren.
Die Philosophen und die Menge
Die Rede über die Täuschung der Vielen nimmt bereits eine bestimmte Stellung ein: in der Regel situieren sich die Autoren als dritte Partei zwischen dem Volk und den Herrschenden, teils als Zuschauer, oft als Ratgeber, manchmal als Übersetzer oder Fürsprecher. Damit wird nicht nur die Aufgabe der Philosophie in der Gesellschaft bestimmt, sondern es werden auch verschiedene Modelle von Aufklärung – von oben herab, von unten herauf, Aufklärung der Macht, durch die Macht, im Schutze der Macht etc. – entworfen und diskutiert. Herauszuarbeiten sind hier die vorausgesetzten, oft bildlichen und unbegrifflichen Vorannahmen sowie die Rhetorischen Strategien dieser Entwürfe, mit denen sie sich mit ihren Lesern, dem „wir“ der Gebildeten, ins Benehmen setzen. Das gilt umso mehr, als die provozierende Frage viele der Beiträge motiviert, auch die Hindernisse und Widerstände zu thematisieren, denen die Aufklärung begegnet – tun sie das offen oder täuschen sie hier selbst?
Ästhetik der Täuschung
Die Vielen, die man möglicherweise täuschen muss, sind durch Sinnlichkeit, Leidenschaften und Imagination bestimmt. Täuschung hat daher auch eine eigene Ästhetik, die in einigen Beiträgen zum Thema wird. Dabei ist besonders zu fragen, wie diese Ästhetik mit anderen zentralen Konzepten der Aufklärung in Beziehung gesetzt wird: mit dem Vorurteil, dem Aberglauben, der Illusion etc. Wenn Täuschung manchmal nötig ist, ist sie dann nicht auch in gewisser Hinsicht natürlich? Hat sie ihre eigene Logik? Und wenn Gesellschaft als „imaginäre Institution“ immer auf einer Form notwendiger Täuschung beruht, wie kann man dann – damals wie heute – über diese Täuschung sprechen, ohne sie schlicht zu verleugnen oder ihr vollständig zum Opfer zu fallen?
Aktualität
Die meisten Beiträge diskutieren über Nutzen und Schaden der Täuschung nicht nur im allgemeinen, sondern in Beziehung zur Gegenwart: Sie sind auch immer Zeitdiagnose über das Erreichte und noch Ausstehende der Aufklärung, über Gegenreaktionen oder über einen zu befürchtenden Verfall, sei es der Moral, sei es der Aufklärung. Den jeweiligen Kontext dieser Diagnosen muss man herausarbeiten, um ein dichtes Bild des Verhandelten zu gewinnen. Zugleich ist aber auch nach der jeweiligen Aktualität für die Gegenwart zu fragen, in der ja der Gestus und Habitus der Aufklärung immer noch und gerade heute in Anspruch genommen wird.
Freitag, 24. März 2023
Moderation Steffen Martus
09:30–11:00 Uhr
Daniel Fulda (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): „In hoc signo vinces.“ Die Apotheose der Aufklärung in Ernst Rathlefs nicht eingereichter Beantwortung der Preisfrage
Harald Bluhm (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Sein und Schein in einer systematisch verengten Preisfrage
11:00–11:30 Uhr Kaffeepause
Moderation Steffen Martus
11:30–12:15 Uhr
Axel Rüdiger (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Kants Reprise: „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu Lügen“
12:15–13:00 Uhr Mittagsimbiss
Moderation Jana Kittelmann
13:00–14:30 Uhr
Elias Buchetmann (Universität Rostock): „The question is no good”: Hegel and the 1780 Prize Contest
Sophia Wege (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Die Unerziehbarkeit des Menschengeschlechts. Zur Aktualität von Schopenhauers Geschichtspessimismus
Anschließend Ausklang der Tagung